Paul Haller an die Eltern

Berlin, 29. Dezember 1904

Liebe Eltern!

Für Euren Weihnachtsbrief, der mich sehr gefreut hat, danke ich herzlich. Eure Ferien scheinen ziemlich genau so verlaufen zu sein, wie ich mir vorstellte. Ich dachte ziemlich wehmütig an Euch; doch wars auch hier ganz nett. Am heil. Abend sass ich bei Gutersohn auf der Bude; da brachte uns seine Philisterin, die überhaupt sehr freundlich ist, ein hübsches Weihnachtsbäumchen herein & jedem einen Teller voll Güezi. Wir selber hatten uns eine Flasche Wein zugelegt & so hatten wirs ganz gemütlich. Wir werden ihr auf Neujahr ein kleines Geschenk machen, um uns erkenntlich zu zeigen. Am Nachmittag war ich bei einer Christfeier in der Marienkirche & am Mittwoch vorher hörte ich in der Singakademie das Weihnachtsoratorium von Bach, das sehr schön, teilweise aber für meinen Geschmack & mein Verständnis langweilig ist. Bach scheint mir sehr spröde & starr.

Leider ist hier das Wetter heute wieder unter allem Hund, nachdem es gestern & vorgestern sehr kalt war. Es regnet wieder & ganz Berlin ist eine Pfütze. So sind die Ferien mehr oder weniger langweilig. Ich war gestern & vorgestern im Wallenstein, hie [&] da im Museum, daneben lese ich & spiele Schach. Meine Philisterin hat immer grosse Freude, wenn sie mich allein spielen sieht, nämlich Partien nachspielen. Sie fragt mich dann spöttisch, ob ich wieder gewinne. Sie ist sonst gerade das Gegenteil von der Gutersohns, & scheint mit den andern Hausbewohnern ein wenig im Streit zu liegen. Sie hat mich zwar am Anfang sehr eindringlich & wiederholt versichert, sie sei nicht etwa so, dass sie ihren Mietern nichts mache & wegen jeder kleinen Extraarbeit eine Geschrei anfange & wusste immer über G.s Philisterin allerlei Gehässiges zu erzählen. Dann aber erklärte sie, es sei ihr zu viel, auch sein Besteck am Abend abzuwaschen, er könne droben essen. Darauf befreiten wirs [sic]] sie ganz von unserm Abendessen & fühlen uns nun sehr wohl bei seiner „Hausdame“.

Am Neujahr gibts hier einen grossen Klimbim zu sehen. Da kommen alle Gesandten in Protzkutschen mit kostümierten Johanns ins Schloss gefahren, um dem Kronenwirt zu gratulieren. Dazu natürlich grosser Wachtaufzug etc. Wilhelm hat zwar gegenwärtig das Glückwünschen weniger nötig als sein Freund & Gesinnungsgenosse in Petersburg. Der wird das neue Jahr mit etwelchem Zittern & Zagen antreten. Mich wundert, ob aus der Bewegung etwas wird oder ob nach dem Krieg wieder alles im alten Tramp weitergehen wird. Ja, wenn der Krieg jetzt gewonnen wäre. Aber so, wie die Chancen stehen, ist wohl auf einen Sieg Russlands nicht mehr zu spekulieren. Und dann, adieu Autokratie! Vielleicht steht Russland vor seiner „franz. Revolution“. Dass ohne Revolution etwas zu erreichen ist, glaube ich nicht.

Interessiert hat mich die Villiger Spiritistengeschichte. Es ist ja gar nicht notwendig, dass Betrug dabei ist, wenn das ja auch sehr oft des Pudels Kern ist. Aber Marie Rufli ist wohl keine Anna Rothe. Ein grosser Teil wird Suggestion sein; doch ist damit eigentlich nichts erklärt, denn was ist Suggestion? Wenn ich Gelegenheit habe, hier einmal einer Spiritistensitzung beizuwohnen, so werde ichs natürlich tun.

Erwin lasse ich für seinen Brief vorläufig danken. Er hat mich sehr gefreut & ich werde ihm bald antworten. – Die Neujahrsglocken werdet Ihr wohl auch diesmal im Bett hören, weil die Jugend nicht sehr zahlreich vertreten ist. Dafür werde ich sicher wach sein & an Euch denken & Euch herzlich gutes Neujahr wünschen, wie ich es jetzt schon tue, natürlich auch für Erwin, Lydia, Marie Scheidegger.

Euer Sohn

                          Paul.

 

Bitte, beiliegenden Brief an Marie zu besorgen!