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Paul Haller an den Bruder Erwin

Küttigen, 11. Februar 1908

Lieber Erwin!

Ich hatte die letzte Zeit sehr wenig übrig zum Schreiben, musste auch vor allem einen schwierigen theologischen Brief an Gutersohn abtun, der mir schon seit Anfang November auf der Seele lag. Auch jetzt ist die Zeit nicht gerade günstig, doch will ichs nicht mehr länger verschieben. Theologie & Religion will auch ich diesmal auf der Seite lassen & der Poesie einige Zeilen widmen. Da die Küttiger das liebe Ich immer voranstellen, will auch ich es tun & zunächst von meiner eigenen Ader & ihrem Schicksal reden. Freude am Dichten hätte ich immer noch, die Lust zu fabulieren überfällt mich hie & da. Aber an etwas grösseres kann ich jetzt gar nicht denken; zum Glück, denn ich würde wie früher schon oft irgend einen Plan aushecken & über dem Aushecken & Anfangen einsehen, dass ich mir zu viel zugetraut. Das „Epos von der idealen Liäbe“ war im Scherz gemeint. Nämlich die Helden wären Adolf Hartmann & sein Schatz, deren Liebesgeschichte ich genau kenne & zum Schund vielleicht einmal in Verse giessen werde, denn sie wäre es wert. Dagegen denke ich oft daran, kleine Erzählungen zu schreiben, Züge aus dem Küttiger Leben & andere Dinge. Dass meine Zukunft auf der Poesie liegt, wie die Deutschlands auf dem Wasser, glaube ich nicht mehr. Wenn mir einst etwas gelingen sollte, so würde es wohl irgendwelchen socialen Zweck haben. Ich sehe, jetzt wenigstens, immer deutlicher die harten Realitäten des Lebens & bin manchmal in Gefahr, darüber die poetische Seite zu vergessen. Das richtige wäre eine Verbindung der beiden Empfindungsarten wie z. B. bei Gotthelf; aber zwingen kann man da nicht, man muss sich wachsen lassen. Kleinere Gedichte entfallen mir immer noch hie & da, z. B. folgendes, das aber keinen Anspruch in irgendwelcher Beziehung machen will.

 

Ich weiss nicht, wer das holde Bild geformt,
Das ich in ahnungsvoller Ehrfurcht grüsse.
Ich weiss nicht, wo die Lippen aufgeblüht,
Von denen ich dereinst den Tau mir küsse.

 

Doch fühl’ ich’s tief im Herzen, dass du lebst,
Dass irgendwo dein Fuss der Erde schmeichelt,
Und dass das Sonnenlicht, das mir erglüht,
Auch dir die reinen Engelwangen streichelt.

 

Und tiefer innen noch fleh’ ich dich an,
Du wollest meiner Seele Sehnsucht stillen,
Und mir den leeren Becher meines Glücks
Mit deiner Liebe Feuerwein erfüllen.

 

Ja, von dem Stern, der dich mir näher bringt,
Erglänzt mir heute schon ein heller Schimmer.
Du goldigste, die mir entgegenkommt,
Ich bin dein eigen jetzt schon & für immer.

 

Und nun zu Deinem dramatischen Projekt. An Grossartigkeit lässt es jedenfalls nichts zu wünschen übrig. Ein grosser Dichter würde daraus wohl etwas machen können. Du verstehst, wie ichs meine. Ich möchte Dir aber keineswegs davon abraten, sondern ich will gerne sehen wie weit Du damit kommst. Ich sage dir offen, dass ich nicht daran glaube, es einst fertig zu sehen, Wenn Dus dennoch fertig bringst, tant mieux. Ich möchte Dich nur daran erinnern, wie Goethe seinen Goetz gemacht hat. Er hat zuerst viele andere kleine Sachen gemacht & dann einen Stoff gewählt, der ihn lange vorher schon begeistert & interessiert hat. Darum hat ers durchführen können. Es scheint mir nun, Du habest den Stoff mehr nur gewählt, weil er schon an sich dramatisch ist. Aber eine eigentliche Begeisterung für diesen Agis wirst Du kaum empfinden. Dazu ist auch seine Zeit zu weit zurück & es braucht eine ganz hervorragende Gestaltungskraft, um so ferne Zeiten uns lebendig darzustellen. Dazu kommt, dass Du gerade das allerschwerste schildern willst; nicht nur die Leidenschaften & Ideale einzelner Menschen, mit denen wir uns verwandt fühlen, sondern sociale & politische Bewegungen, in denen ganze Volksmassen handelnd auftreten. Dazu gehört aber eine grosse Einsicht in sociale & politische Probleme & eine durchdringende Menschenkenntnis. Hast Du das alles? Ich habe mich kaum für jemand so begeistert in der Geschichte, wie für Hannibal. So wollte ich einmal ein Epos über ihn schreiben, habe auch richtig angefangen, aber ich bin nicht weit gekommen. Auch mit der Begeisterung ist es eben noch nicht gemacht.

Nun glaube ich allerdings auch, dass für junge Leute ein historischer Stoff leichter zu behandeln ist. Denn das Leben der Gegenwart zu schildern, ist für sie noch unmöglich, weil sies noch nicht kennen. Historische Stoffe können wirken, auch wenn das Milieu nicht ganz getreu ist, denn der Leser oder Zuschauer hat selber kein deutliches Bild jener Zeit & muss es sich erst vom Dichter geben lassen. Aber dann würde ich auf alle Fälle etwas nehmen, das uns näher liegt. Ich habe auch einmal an ein Drama über den letzten Makkabäer, der von Herodes d. Gr. ermordert wurde, gedacht, weil auch im Stoff selber die Tragik lag. Aber ich bin nie auch nur an einen Plan herangetreten. Damit will ich Dir nicht den Mut nehmen; wenn Dus trotz alledem wagen & ausführen willst, dann hast Du vielleicht auch das Zeug dazu. Aber Du hast meine offene Meinung verlangt & die habe ich Dir gesagt. Falls Du fortfährst, so interessiere ich mich natürlich sehr dafür. Der Plan scheint mir gut, aber wie gesagt, zu gross angelegt.

Ich muss nun noch mich rasieren & dann nach Aarau zu Augusts zum Nachtfrass. Herzlichen Gruss

                                                           Paul.

 

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