Paul Haller an die Mutter

Zürich, 31. Januar 1911

Liebes Mütterlein!

Ich muss so viel an Dich denken & an die vergangenen Tage & ich komme mir recht einsam vor in Zürich. Allerdings zu Hause fühlt man die Leere, die nun geworden ist, mehr, aber man ist doch bei einander & kann sich aussprechen. Hier kommt ein Heimweh, das ich in Rein nicht hatte. Aber es wird besser kommen, wenn wir uns erst an die Tatsache gewöhnt haben, dass wir nun ohne Vater sind & den Weg ohne ihn suchen müssen. Es heisst nun, mehr auf sich selber stehen & daraus wir auch etwas gutes kommen.

Ich hoffe, Du habest eine ordentliche Nacht hinter Dir. Wenn es nur so bleibt mit den Nächten, wie es bis jetzt war, so dass Deine Gesundheit nicht leidet. Denn Du liebes Müetti, musst uns nun noch recht lange erhalten bleiben. Wir haben dich nicht nur lieb, sondern nötig. Nicht nur für das Äussere; da sind wir ja hoffentlich bald alle ganz unabhängig; aber vielmehr für das Innere. Deine Liebe hält uns zusammen & hält uns das Herz warm in der Arbeit & der Unlust des Lebens. Du hast uns von Jugend auf viel gegeben, das beste was wir haben; aber Du hast uns etwas zu geben, solange Du am Leben bist.

Ob sich nun die Zukunft so oder so gestalten wird, ist nicht die eigentliche Hauptsache. Sondern dass wir alle durch Dich noch zusammengehalten werden. Das wird geschehen, ob Du Dich so oder so entscheidest. Du musst also nicht denken, dass an dieser Entscheidung alles hänge & kannst ganz ruhig das tun, was Dir persönlich für Dich am angenehmsten ist.

Marie & Marie Sch. grüsse ich herzlich & Dir schicke ich einen innigen Kuss!

                                                                                                                                              Paul.