Paul Haller an den Bruder Erwin

Schiers, 7. Januar 1916

Lieber Erwin!

Mittwoch Abend bin ich direkt von Augsburg her wieder eingerückt, unterwegs habe ich in Rorschach noch Hanni besucht. Hier fand ich Deinen Brief & das Päcklein, wofür herzl. Dank. Ich habe Dir kein Geschenk, vielleicht bringt Dir der Geburtstag eins.

Zuerst die Stellengeschichte. Nach Rorschach werde ich mich nicht melden. Es hat keinen Sinn, von hier weg dorthin zu ziehen. Dagegen würde ich Dir zur Anmeldung raten, wobei allerdings ein Ausserkantonaler wohl wenig Aussicht hat. Ob etwa Schmitter sich meldet, weiss ich noch nicht, will Dirs aber mitteilen. Die Verhältnisse dort sind, wie man hört, nicht immer angenehm; aber was tut’s? Ein Deutschlehrer wird auch weniger angefochten als etwa der Direktor & der Geschichtslehrer. Vielleicht erinnerst Du Dich an Hannis Kulturkampf; übrigens schreib ihr, sie kann Dir jedenfalls gute Auskunft geben.

Nach Wettingen werde ich mich melden. Das ist das Ziel, auf das ich schon seit meinem Berufswechsel hingearbeitet habe. Die Stelle wäre mir viel lieber als Aarau, weil hier Knaben sind. Aber sicher bin ich natürlich der Sache nicht. Denn eben lese ich, dass in aarg. Zeitungen schon Hengherr vorgeschlagen wird. Das allerdings wäre eine lustige d. h. betrübliche Wahl, aber Du weisst ja: die Politik! Er ist einer der grossen Schreier & bei den Parteihäuptern gut angeschrieben. Es wird also wie beim Nachfolger Winterlers ein Kampf zw. Politik & akadem. Bildung werden. Ob sonst noch jemand in Betracht kommt, weiss ich bis jetzt nicht. Zimmerli spekuliert, soviel ich weiss, auf keine der beiden Stellen; er hat mich schon früher nach Aarau ziehen wollen.

Nun von München. Ich bin gut hinein & hinausgekommen & habe diese Tage voll ausgekostet. Theater, Konzert, Galerien, Spaziergänge, viel Schönes & Interessantes gesehen. So viel, dass ich nun wie nach einem kräftigen Mahl wieder frisch an die Arbeit gehe. Einzelnes dann lieber einmal mündlich. In Augsburg habe ich einen Kollegen besucht, der dort im Dienst ist als Musiker & auch dort war’s schön. Die Stadt ist ganz herrlich, so grossen Eindruck hat mir noch keine gemacht. In München war ich bei Thierschs sehr gut aufgenommen. Deinen Brief habe ich gar nicht abgegeben, weil es bei der Selbstverständlichkeit, mit der ich empfangen wurde, fast komisch gewesen wäre. Ich habe den Sylvesterabend bei Ihnen in grosser Gesellschaft verlebt.

Vom Krieg merkt man draussen viel weniger als zu erwarten wäre. Man isst verhältnismässig billig, nur das Brot ist knapp. Viel Soldaten, verwundete & gesunde wimmeln auf den Strassen; aber die Münchner treiben ihr freies Leben weiter wie im Frieden.

Mein Drama habe ich in den Ferien in Aarau vorgelesen vor Hartmanns, Zimmerli, Frau Dr. Fischer. Es hat auch dort grossen Eindruck gemacht. Falls Du einverstanden bist, möchte ich es nun zuerst noch behalten zu letzter Überarbeitung & es Dir dann erst schicken. Ich möchte nämlich rasch für Druck & ev. Aufführung in Bern (Heimatschutzspielverein unter Greyerz) sorgen. „Unter der Treppe“ habe ich hier einer meiner Klassen vorgelesen & grossen Erfolg gehabt! Das ist immerhin ein gewisses Kriterium, vielleicht ein besseres als manches kunstkritische Urteil.

Dank für Deine Gedichte. Mir gefällt das kurze gut, viel besser als das Mundartgedicht. Es ist Frische und Kraft drin.

Von Herzen grüsst Dich

                                                                       Paul.