Paul Haller an den Vater

Basel, 5. Juni 1902

Lieber Vater!

Mutter ist also immer noch im Bett. Ich hatte geglaubt, das gute Wetter werde ihr wirklich helfen; es scheint aber doch nicht die gehoffte Wirkung zu haben. Tante Marie ist sehr besorgt, hofft aber doch auch, dass die Sache nicht gefährlich sei.

Besten Dank für die Übersendung des Paketes. Mit Erwin habe ich diesen Abend noch gesprochen, um Euch umso besser Bericht geben zu können über die Sache. Er kam schon am Samstag zu mir & anvertraute mir seine Absicht. Es kam mir auch unerwartet; immerhin habe ich bei ihm nie irgendwelche Begeisterung oder ein tieferes Interesse für seine Arbeit bemerkt, was auch wirklich zu begreifen ist. Ich habe ihn vor Übereilung gewarnt, indem ich dachte, nach einiger Zeit, wenn er einwenig tiefer eingedrungen sei, werde auch die Lust noch mehr erwachen. Ich sagte auch, er werde es vielleicht einmal bereuen, da er in der Kaufmannscarrière sicher eher zu einem Einkommen gelange, als auf dem Wege des Studierens. Er antwortete, ohne Interesse in einem Berufe leben möge er nicht, das Einkommen sei nicht das einzige, nach dem er sich richten wolle. Er glaube nicht, dass die spätere Beschäftigung ihn mehr befriedigen würde, da er ja täglich sehe, was die älteren zu tun haben. Auch sei ein Kaufmann ohne eigenes Geschäft in einer abhängigen Stellung, womit das gute Einkommen teuer genug bezahlt sei. Da ich sah, dass es ihm wirklich Ernst war, besprach ich dann das nähere des Studiums mit ihm. Darüber nun ist meine Ansicht folgende: Wenn er Geschichte & Germanistik oder andere Philologie treiben will, so ist jedenfalls das Griechische für ihn von gewissen Nutzen, wenn auch nicht notwendig. Insofern wäre also das Basler Gymnasium eher zu empfehlen. Dabei ist aber zu bedenken, dass er dann sich im Griechischen sehr weit nachzuarbeiten hätte. Lateinisch hätte er ja an beiden Orten nachzuschaffen. Andererseits aber wäre es sehr wünschenswert (nach meiner ganz persönlichen Meinung), wenn er auch von Naturgeschichte etwas zu hören bekäme. Ich bin nämlich wirklich kein Freund der höchst einseitigen humanistischen Lehrweise der Baslerischen Schulen; die Naturwissenschaften haben solche Entdeckungen gemacht, so grosse Umwälzungen auf dem ganzen Gebiet des menschlichen Denkens hervorgerufen, dass ein moderner Mensch sich einigermassen damit vertraut machen muss. Das Mittelalter, in dem die humanistischen Anstalten noch stecken, ist eben vorüber. Mir waren die naturwissenschaftlichen Fächer (ausgenommen die Chemie, die mir zu trocken war) in Aarau vom liebsten, wenn ich schon oft mit Mühlberg nicht gut auskam. Und hauptsächlich die Physik bietet einem sehr viel. Dummerweise verlangt Prof. Mühlberg, dass alle, die sich nacharbeiten wollen, bei ihm Stunden nehmen müssten. Diese kosten dann gewöhnlich 5 frs per Stück, was im Ganzen für einen Kurs von 40 Stunden, der genügen würde, 200 frs. ausmacht. Da die Kosten für den Unterhalt an beiden Orten ziemlich gleich sein würden, so sind für mich auf beiden Seiten kurz folgende Gründe massgebend: In Basel würde Erwin Griechisch lernen, was ihm zum Beruf & zur klassischen Bildung nützen würde; in Aarau würde er Naturgeschichte etc treiben, was seine allgemeine & practische Bildung erhöhen würde. Dass die Freiheit, die in Aarau im ganzen herrscht, auf junge Leute von einigem Character gut einwirkt, bin ich überzeugt, wenn auch gegen einzelnes etwas eingewendet werden kann. Erwins Wunsch steht, wie Ihr Euch wohl denken werdet, nach Aarau; er weiss eben, dass Adolf & ich dort eine schöne Zeit verlebt haben.

Aber ob er überhaupt studieren soll? Wenn er beim Kaufmannsberuf keine Befriedigung findet, was ja allerdings hauptsächlich in finanzieller Richtung für Dich & für ihn wünschenswert gewesen wäre, so würde ich ihn eben gewähren lassen, wenn es wenigstens möglich ist.

Hier ist also meine Ansicht, die Ihr gewünscht habt, die aber natürlich ganz persönlich & ohne Anspruch auf absolute Richtigkeit ist

Das Collegienbuch habe ich nach Aarau geschickt.

Ich war nun genötigt, endlich neue Schuhe zu kaufen, da meine alten, die so lange mich trugen, dahin sind. Dann hat mich das Badabonnement 5 frs & ein Abzugsriemen 2.50 frs. gekostet. Nun muss ich noch meine Monatsrechnung zahlen & da ich dem K.T.V. noch meine letzte Rechnung bezahlte (die ich natürlich aus meinem Stundengeld bestreiten werde, wenn ich welches erhalte) so bitte ich Dich, mir etwas Geld zukommen zu lassen. Auch die Schuhe kann ich dann selbst bezahlen, vorläufig aber konnte ich das noch nicht.

Prof. Bornemann & Bolliger trugen mir Grüsse auf an Dich, die ich hiemit übermittle.

Mit herzl. Grüssen an Euch alle, besonders an die kranke Mutter,

Dein Sohn Paul Haller.