Paul Haller an den Vater

Küttigen, 13. Dezember 1909

Lieber Vater!

Wenn nun nicht gestern Tantes Beerdigung gewesen wäre, so wäre ich nach Hause gekommen. Ich hätte nämlich gerne etwas mit Dir besprochen & da nun nicht vorauszusehen ist, dass wir in nächster Zeit so zusammenkommen, dass wir eine ruhige Stunde haben, so will ich Dir brieflich mitteilen, um was es sich handelt.

Ich habe schon hie & da mit Mutter darüber gesprochen, dass ich mich noch gar nicht so wohl fühle im Pfarramt, wie es sein sollte und wie ich gerne möchte. Ich bin vor 3 Jahren hieher gekommen mit dem Vorsatz, ich wolle eben versuchen, obs gehe oder nicht, hatte aber schon damals Zweifel daran. Heute sehe ich, dass ich jedenfalls zu früh dieses Amt angetreten habe. Ich hätte noch einige Jahre ruhiger Reife haben sollen, ruhiger Besinnung, dann wäre wohl alles leichter gegangen. Was mich drückt, ist nämlich das Gefühl, dass ich in religiöser Beziehung dafür jetzt noch nicht reif sei, dass ich von Dingen reden muss, deren Wichtigkeit ich wohl einsehe, deren Berechtigung & Gültigkeit mir aber noch oft zweifelhaft [sind]. Das sind nicht nur die kirchlichen Gebräuche, in die ich mich schwer einleben kann, sondern auch tiefer gehende Fragen, Glaubensfragen. Ich fühle fast überall nur die Probleme, fühle die ungeheuren Widersprüche der Welt & des menschlichen Daseins, fühle die Not der Seele & des Leibes, in der die Menschen leben. Aber damit ist noch keine Lösung dieser Probleme gegeben. Als Pfarrer muss man aber eine Lösung für alles haben, muss aus jeder Not einen Ausweg wissen. Ein Beispiel soll Dir zeigen, wie ich das meine: Krankheit & Tod stehen uns täglich vor Augen, ich habe ca. 40 Personen zu begraben jedes Jahr. Nun fühle ich tief die Vergänglichkeit der Welt & das Grauenhafte, das im Sterben liegt. Nicht dass ich selber Angst hätte davor, aber mir ist die Tatsache des Todes & des Leidens in Natur & Menschenleben ein grosses Fragezeichen, zudem [sic]] ich nicht so leicht eine Antwort finden kann. Als Pfarrer muss ich nun ohne weiters den „christlichen“ Ausweg wissen & glauben. Ich weiss ihn & glaube, das ist das grösste am Christentum, dass es einen Weg zur Überwindung des Todes zeigt. Aber mit dem Glauben ist es noch eine andere Sache. Ich habe wenigstens noch nie gewagt, davon zu predigen. Ich fühle das Problem & den Ernst der Sache, aber ich stehe persönlich der christlichen Lösung noch nicht so bejahend gegenüber, wie ich als Pfarrer sollte. Das ist ein Beispiel, dazu könnte ich viele andere fügen. Kurz, ich denke manchmal, ich sei nicht fest genug in meiner Überzeugung, um Pfarrer zu sein. Dazu kommen ja noch viele andere Nöte des Pfarrerstandes, aber von denen will ich gar nicht reden, die sind schliesslich zu ertragen, wenn man mit gutem Gewissen bei der Sache sein kann. Nein, eines muss ich noch erwähnen: Die Verwässerung des Christentum, wie sie im grossen ganzen in der Reform zum Ausdruck kommt, ist mir gründlich zu wieder [sic]]. Damit wird die Welt nicht anders & das entspricht der Sehnsucht der Menschenseele nicht. Es muss eine starke positive (nicht in theolog. Sinn) Macht sein. Das Christentum ist entweder etwas sehr ernstes & grosses & anspruchsvolles, oder dann ist es gar nichts. So fühle ich seit langer Zeit. Aber nun kommt eben das Dilemma, dass ich mich nicht für fähig halte, ein so starkes Christentum zu verkündigen, weil ich selber nicht darin stehe. Ich kann nun einmal nicht schwatzen, ohne mit dem Herzen dabei zu sein.

Nun ists aber nicht so, dass mir sonst die Arbeit des Pfarrers zuwider wäre. Ich hätte Freude daran, wenn ich innerlich ruhig wäre dabei. Ich kenne nun meine Gemeinde so, dass ich weiss, wie und wo ich etwas wirken könnte. Und ich bin gar nicht sicher, dass ich mich in einem andern Beruf wohler fühlen würde. Nur eines wäre besser; ich müsste nicht mehr gezwungener Weise über religiöse Fragen reden & könnte viel ruhiger & objektiver darüber mich besinnen. Denn jetzt ist das unmöglich. Da muss eine Predigt gemacht sein, ob man kann oder nicht. Schon oft hatte ich das Gefühl, das Pfarramt stehe mir vor meiner religiösen Entwicklung d. h. ich wäre weiter, wenn ich nicht Pfarrer wäre. Das mag Täuschung sein; aber jedenfalls könnte ich mit besserem Gewissen unter der Kanzel sitzen als darauf stehen.

Noch etwas. Die Stellung in diesen Fragen hängt auch mit meinem körperlichen Befinden zusammen. Wenn ich müde & aufgeregt bin z. B. nicht genug geschlafen habe, so kommen alle diese negativen Gefühle mächtig über mich. Bin ich ausgeruht, so gehts besser. Aber doch ist es auch dann mehr eine natürliche Zufriedenheit, als eine zielbewusste Abgeklärtheit.

All das hat mich schon lange gequält & gemacht, dass ich meine Stellung als eine unsichere ansah. Darum habe ich auch nie ernsthaft ans Heiraten gedacht & mich auf die Brautschau gemacht. Dagegen habe ich mir folgendes zurechtgelegt & bitte Euch, liebe Eltern, um euren Rat dazu.

Ich möchte eine Zeitlang des Amtes ledig sein, wenn es nur etwa 3–4 Monate wäre[n]. Ich würde mich nach einem Stellvertreter umsehen (was allerdings Mühe machen wird) & die Kirchenpflege um Urlaub bitten, ebenso den Kirchenrat. Dies geschehen & hoffentlich bewilligt, würde ich nach Zürich oder Basel gehen & das Sommersemester an der Universität verbringen, würde Geschichte & einige andere Fächer hören & mich auf das Bezirkslehrerexamen vorbereiten. Dies würde ich bestehen, um auf alle Fälle, im schlimmsten Fall, eine Stellung finden zu können. Der Kirchenpflege würde ich das Studium als Urlaubsgrund angeben, denn ich kann ihr das[,] was mich drückt, doch nicht begreiflich machen. Ich hoffe, dass ich in dieser Zeit viel ruhiger würde & nachher mit Freude das Amt wieder antreten könnte. Das Examen würde mir auf alle Fälle nichts schaden, denn wenn ich einmal später eine Stelle als Lehrer, Erzieher etc (in einer Anstalt) fände, die mir passen würde, so würde ich mich darum bemühen. Ich glaube immer noch, dass ich als Lehrer besser an meinem Platze wäre.

Die äusseren Schwierigkeiten meines Unternehmens sind nicht allzu grosse. Ich könnte aus meinem Ersparten schon ein Semester leben & Rosa müsste hier bleiben & der Stellvertreter im Pfarrhaus wohnen. Die grösste Schwierigkeit wäre, einen geeigneten Stellvertreter zu finden. Ich würde mich dafür an die Professoren von Basel & Zürich wenden; ich glaube, noch leichter ist es, einen Stellvertreter zu bekommen, als einen Pfarrer.

Zu diesem Projekte bitte ich Dich um Deinen Rat. Es tut mir leid, dass ich Euch dadurch in Unruhe bringen muss; aber ich halte dafür, es sei besser, volle Offenheit mit Unruhe, als eine Ruhe, wo man einander nicht kennt. Ich habe Euch wirklich so geschrieben wie ich denke & fühle & weiss, dass Ihr das gern habt. Was soll ich tun?

In treuer Liebe

                                Euer Paul.