Frühling
 
Wenn der Schüler in der Schule sitzt,
Und heller Schweiss ihm auf der Stirne blitzt,
Und ihm übel ist zum Gerben,
Und er sich anödet bis zum Sterben,
Während draussen hell die Sonne scheint
Und der Saft aus allen Bäumen weint,
Dann ist’s Frühling.
 
Wenn der Herr Professor in dem Rocke
Sitzend an dem Pult genannten Pflocke,
Gähnend mit den Schülern um die Wette,
Eine lange, dünne Formelkette
An die schwarz bestrichne Tafel malt,
Während draussen hell die Sonne strahlt,
Dann ist’s Frühling.
 
Wenn in öden, ewigfaden Versen
Wir des Virgils Aenide lesen
Und wir bei der Dido süssen Küssen
An zwei rote Lippen denken müssen,
Und ein Traum in leidem Geisterflug
Unser Leben in die Ferne trug, –
Dann ist’s Frühling.
 
Wenn wir so am offnen Fenster träumen
Und man’s hört im Ententeiche schäumen,
Und mit süssem Tone singt die Nachtigall
Und mit ihrem zauberhaften Schall
Schüler lockt ins Reich des Ewig-Schönen,
Das Verschiedene im Ententeiche wähnen, -
Dann ist’s Frühling.
(aus der Zeit der frühen Gedichte, 1895−1904)