Paul Haller an die Mutter
Schiers, 5. November 1913
Liebes Müeti!
Wie gerne möchte ich morgen früh an Deinem Bett stehen & Dir zum Geburtstag sagen, wie lieb ich Dich habe & wiesehr ich wünsche, dass Du uns noch recht lange erhalten bleibest. Ich fühle jetzt noch fast mehr als zu Hause, wie viel Du mir in diesen Jahren des Übergangs gewesen bist & wie viel wir Dir überhaupt für unser ganzes Leben zu verdanken haben. Der liebe Vater hat Dir das ja auch an jedem Geburtstag von neuem gesagt & was er nicht mehr kann, dass wollen jetzt wir Kinder tun.
Du kommst Dir gewiss morgen recht einsam vor; aber Du weisst ja, dass wir in Gedanken bei Dir sind. Ein Geschenk habe ich Dir diesmal nicht, da man hier nichts kaufen kann & da ich weiss, dass Du von mir jetzt nichts erwartest.
Herzlichen Dank für Deinen Brief. Dass es Bethy wieder ordentlich geht, ist erfreulich, aber wirklich merkwürdig; nach Deiner ersten Nachricht musste ich auf ein schnelles Ende rechnen. Hattest Du den Verwandten schon geschrieben? Du hast gewiss damit viel zu tun gehabt.
Wegen meiner Wohnungsänderung bin ich noch nicht im Klaren. Wahrscheinlich wird es noch bis Ende Monat dauern & um mich danach einrichten zu können, sollte ich bald wissen, wann die Zügelei stattfinden soll. Ich denke, ich komme an einem Samstag Nachmittag & bleibe bis Dienstag. Oder glaubst Du, das genüge nicht? Wenn dies nun bald geschieht, so lasse ich die Möbel bis dahin noch in Brugg, damit dann alles zugleich spediert werden kann. Sonst aber will ich lieber nicht lange warten & es wäre ja auch gut, wenn etwas wegkäme & Platz geschaffen würde. Sehr gerne würde ich auch mein Ruhbett kommen lassen; oder glaubst Du, es sei zu schwer? Dann also 1 Bett & Schreibtisch. Über das Harmonium bin ich immer noch unentschlossen. Schreibe mir also bald, wann die Zügelei sein soll; ich muss mich auch mit dem Unterricht danach richten. – Ich halte es auch für notwendig, zu kommen; denn Dir wird dadurch viel Sorge abgenommen. Marie glaubt immer gerne, so etwas gehe ganz von selber; & doch gibts jedes Mal mehr zu tun, als man vorher glaubte.
Hier habe ich mich nun schon ordentlich eingelebt. Der Geographieunterricht wird mir schon leichter & ich lache bereits über meine Stimmung vor 8 Tagen, wo ich einmal fast daran dachte, die ganze Geschichte rückgängig zu machen. Ich werde auch neben der Praeparation noch etwas freie Zeit behalten, denn Zerstreuungen & Gesellschaften gibts hier nicht viel. Ja, sehr einsam wird es mir werden trotz den vielen Lehrer & Schüler. Die Umgebung habe ich schon etwas kennen lernen durch kleine Bummel & durch einen grösseren am Samstagmorgen. Nachmittags war ein kleines Turnfestchen, bei dem ich mit anderen als Kampfrichter zur Verwendung kam. Das war recht nett, aber von beiden Dingen & der ganzen Woche war ich am Abend so müde, dass ich um 8 h zu Bett gieng, weil mir die Augen zufielen. Ich fange jetzt an gut zu schlafen & bin überhaupt wohl. Das Essen in der Anstalt ist, wenigstens am Lehrertisch, sehr gut. Am Sonntag besonders hatten wir ein kleines Festmahl.
Über die einzelnen Lehrer will ich Dir dann einandermal erzählen; das Anstaltsleben kenne ich noch nicht genau, auch von den Schülern nach weniger. Doch ist es interessant, sie kennen zu lernen, weil alle prot. Kantone der Schweiz vertreten sind. Die Welschen herrschen etwas stark vor.
Schicke mir, bitte, bei Gelegenheit einige Anzüge für mein Kopfkissen, das mir gute Dienste leistet.
Nun Schluss. Leb wohl, liebes Müeti & tritt Dein 70. Jahr so munter an, als es Dir möglich ist. Grüsse alle, auch die im obern Stock!
Dein Paul.