Paul Haller an die Mutter
Hüttwylen, 18. Oktober 1917
Liebes Müeti!
Ich war recht froh, Deinen Brief zu bekommen. Wohl weiss ich, dass Du immer an mich denkst, aber ein sichtbares Zeichen ist mehr als blosse Gewissheit. Und ein gutes Wort ist fast wie das Streicheln einer lieben Hand. Ich denke, Du seiest nun d. h. Ende dieser Woche wieder in Brugg, & sende Dir meinen Brief dahin. Du hast gewiss viel Freude gehabt in Zof., vor allem an dem neuen Grosskind, das wie ich nicht zweifle, alle Vorzüge des Neugeborenseins auf sich vereinigt, da es von der schlimmen Welt noch nicht verdorben ist. Ich freue mich auch, es einmal zu sehen.
Ich schreibe Dir heute viel ruhiger & zuversichtlicher als das letzte Mal. Ich habe das Gefühl, ich sei ein gutes Stück weiter gekommen, ja es habe eine neue Periode der Genesung angefangen. Ich bin auch zu einer ziemlich andern Heilmethode übergegangen & sehe nun mein Leiden von einer etwas andern Seite an. In Klosters hatte ich zuletzt noch 2 schlechte Nächte, verursacht wahrscheinlich durch die Unruhe & Ungewissheit des bevorstehenden Ortswechsels, wie auch der Frage, ob ich noch einmal um Urlaub einkommen solle. In Schiers, wo ich von Samstag auf Montag war, schlief ich 2 Nächte durch, ohne aber deshalb frischer zu werden. Erst die 3. gute Nacht hier in Hüttwylen macht mich wieder zum Menschen. Nun hatte mich schon Dr. v. Nergart in Klosters darauf hingewiesen, dass solche Zustände viel weniger eine physische, als eine psychische Krankheit & demgemäss anders zu behandeln seien als durch blosse Ruhe. Ich konnte seiner etwas einseitigen Theorie damals nicht beistimmen, habe aber doch sofort angefangen, von seinem Rat Gebrauch zu machen & in schlaflosen Stunden mich durch beruhigende Vorstellungen von der Tatsache des Nichtschlafens anzulenken. Ich stellte mir vor, dass ich nun wieder im Unterland zu lieben Leuten fahre & hauptsächlich zu Dir. So fand ich wirklich Ruhe & Schlaf. In Schiers sprach ich mit Dr. Flury, einem alten erfahrenen Arzt, der mir Vorlesungen v. Dubois über die Heilung v. Psychoneurosen zu lesen gab. Hier fand ich wieder die Aufforderung, durch Selbstzucht der Seele zu innerer Ruhe zu kommen & da ich nun wirklich schon etwas besser geschlafen hatte, so fand ich auch die Kraft, mich selbst etwas zielbewusster in die Hand zu nehmen. Kurz, ich habe nun mit der Periode des blossen Ausruhens abgeschlossen & angefangen, mich an leichte Betätigung zu gewöhnen. Ich lese jeden Tag & zwar Kügelgens Jugenderinnerung, ein warmes, beruhigendes Buch; ich mache keine blossen Spaziergänge ohne Ziel mehr, sondern immer zu einem bestimmten Zweck, z. B. trage ich einen Brief nach Warth zur Post, wo er früher fortkommt etc. Ich bekämpfe alle Depressionen durch Ablenkungen. Bald werde ich auch anfangen, etwas zu schreiben; ganz leicht, einige Erinnerungen aus diesem Sommer aufzeichnen. Heute Nachmittag bin ich froh & ruhig wie schon lange nicht mehr & wenns auch sicher wieder zu Zeiten anders kommt. So sehe ich nun vorwärts & glaube über das schwerste hinüber zu sein. Ich bleibe vorerst etwa 10 Tage hier, dann komme ich einmal zu Euch; das Weitere wird sich alles finden. Das Schiff wird ja leicht wieder irgend einen Hafen finden. Ein Urlaubgesuch habe ich eingereicht, das war nötig; denn die Vorstellung, jetzt schon wieder in das Joch zu müssen, hätte mich nur kränker gemacht. Und die volle Arbeitslast wäre wirklich noch viel zu viel für mich.
Das alles scheint Dir vielleicht noch kleinlich & ängstlich. Aber ich habe mich nun in diesen Monaten genug beobachten können, um zu wissen, dass ich vorsichtig sein muss. Denn mein ganzer Zustand geht eigentlich viel weiter zurück, als ich bis jetzt gewöhnlich angenommen. Alles was mich seit Jahren bedrückt, hat hierin schliesslich seine Auswirkung gefunden, vor allem das Coelibat, das Alleinsein & dann auch der Conflikt zwischen Kunst & Beruf. Über alle diese Dinge wollen wir dann einmal gründlich mit einander reden; ich habe zu vieles immer nur alleine herumgewälzt. So bin ich schliesslich zu einer sog. Psychoneurose gekommen, zu einem krankhaften Seelenzustand, zu einem unentschlossenen & zaghaften Wesen. Aus all dem muss ich jetzt gründlich heraus.
Wenn einmal meine beiden grossen Lebensfragen für mich gelöst sein werden, dann erst werde ich ganz gesund sein & in voller Frische arbeiten können. Daran denke ich schon jetzt mit Hoffnung & grosser Freude. Ich will ja nichts vom Leben, als dass ich das Beste, was in mir ist, betätigen kann. Das allein heisst leben. Und dass man dazu kommt, das ist jedes Opfer wert, auch eine solche Zeit der Qual & Irrung, wie ich sie nun hinter mir habe. Schliesslich wird dies eine tiefe, grosse Lebenserfahrung sein, aus der ich mit neuen Kräften erwache.
So, liebes Müeti, sehe ich’s jetzt an & ich hoffe, ich könne mich in dieser frohen Zuversicht erhalten. Es wird noch auf & abgehen, aber ich habe nun Mut & Willen einmal gefasst & will sie festhalten. Das wird auch Dir eine Beruhigung & Freude sein.
Gut Nacht! Grüsse alle herzlich.
Dein
Paul.