Paul Haller an den Bruder Erwin
Zürich, 11. Februar 1919
Lieber Erwin,
Ich habe lange auf Deinen Brief gewartet, hätte gerne etwas von Dir gehört. Ich war inzwischen in Bern, am letzten Donnerstag, an der Hauptprobe von Marie & Robert. Am Samstag war die Aufführung. Für die Alte musste schliesslich Frl. Stähelin von Aarau einspringen & hat auch weitaus am besten gespielt. Die Aufführung zeigte keine intensive Arbeit; Greyerz lässt die Leute einfach machen wie sie wollen; es besteht keine straffe Regie. Die Folge ist, dass das Zusammenspiel fehlt, auch wo gute Einzelleistungen sind. Von den 3 Aufführungen war diese die schlechteste. Vom Stück selbst habe ich jetzt, wo ich ihm immer objektiver gegenüberstehe, immer noch den Eindruck grosser dramatischer Kraft. Dies hat mir Mut gemacht. Ich kann die Zeit fast nicht erwarten, wo ich wieder poetisch schaffen kann & doch heisst’s wohl noch lange Geduld haben. Ich bin noch immer stark am Zeichnen & mache Fortschritte. Auch meine psycholog. Zeichnungen weisen eine starke Entwicklung auf. Aber es zeigen sich immer noch Hemmungen & in den Träumen gibt’s noch Schmutz, der zu entfernen ist. Oft aber lebe ich schon in grosser Freude. Im Ganzen geht es gut vorwärts. Was will ich mehr?
Du scheinst von der Analyse nur Hülfe für das Stottern zu erwarten. Ich hoffe, sie werde Dir viel mehr geben, sie werde Dich ins Leben hineinführen. Ich möchte Dir einen Vorschlag machen. Falls Du zu Frl. Moltzer kommen willst, so würde ich Dir meine Stunden abtreten für Deine Frühjahrsferien. Sie ist nämlich so in Anspruch genommen, dass sie keine neuen Patienten annehmen kann. Auf diese Weise aber würde es vielleicht gehen. Ich würde dann nur etwa alle 14 Tage einmal hingehen. Jetzt war ich seit Mitte Dez. nicht mehr dort. Schreibe mir sogleich, ob ich sie in diesem Sinne anfragen soll & sag mir, wann Du Ferien bekommst. Ich rate Dir, dann sogleich nach Z. zu kommen & Dich mit allem Ernst auf die Analyse zu konzentrieren.
Falls Du lieber zu einem Mann giengest, so wüsste ich nicht recht, zu wem. Ev. zu Mäder? Aber jedenfalls musst Du zu rechter Zeit dazutun, da die meisten sehr besetzt sind.
Wir haben gestern 4 Wochen Frühlingsferien beschlossen, da wir Kohlenmangel haben. Schön! Jetzt haben wir Schnee & helle Winterkälte, heute Morgen –16º. Auf den Skiern war ich noch nie dies Jahr.
Herzl. Gruss
Paul.