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Paul Haller an die Eltern
Marburg a. L., 19. April 1904
Liebe Eltern!
Ich denke, Ihr werdet meine beiden Karten bekommen haben & also bereits wissen, dass ich Untergasse 13II wohne. Meine Philisterin ist eine jüngere Frau mit einem Kind; ob sie Wittwe ist, weiss ich noch nicht. Auch ihr Name schwebt mir noch einigermassen im Dunkel, ich glaube Bieger oder so was. Ich wohne gerade hinter der Synagoge & sehe über die nächsten Häuser weg an die gegenüberliegenden Höhen, vor allem an die unvermeidliche Bismarcksäule. Für das Zimmer, dass [sic]] ziemlich gross ist & 3 Fenster hat, zahle ich im Semester 70 M. also 17½ M. im Monat. Etwas billigeres zu finden ist schwierig.
Nun muss ich Euch vor allem von der Reise erzählen. In Basel traf ich Tante M. am Morgen nicht, dagegen am Abend vor der Abreise. Sie ist noch nicht ganz wohl & litt damals sehr von der Hitze. Im Zuge war es auch kaum auszuhalten, bis es schliesslich gegen Abend ein wenig kühler wurde. Die Gegend bietet nichts interessantes, von den Ortschaften, die man passiert, sieht man nicht viel, nur in Freiburg einige Kirchtürme, von denen natürlich der Münsterturm der schönste ist. So waren wie herzlich froh, als wir in Heidelberg aussteigen konnten, wo uns Gutersohn & Münch, die bereits am Morgen angekommen waren, in Empfang nahmen & uns in die goldene Rose führten, wo sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Da aber alles schon besetzt war, giengen Rohr & ich weiter um ein Haus & landeten schliesslich im Nassauerhof. Am Morgen wussten wir, dass wir schlecht geschlafen hatten & von Flöhen nicht unverschont geblieben waren. Wir giengen nun aufs Schloss, das mir samt dem grossen Fass sehr gut gefiel. Am schönsten aber ist der Blick über die Stadt & das Ne[c]kartal. Leider war es nicht ganz klar, sodass wir eigentlich nur das nächste sahen. Dies ist auch einer der Orte, von wo man bis 1870 nach Frankreich sah & von 70 an nicht mehr. Vom Schloss stiegen wir zu Papa Spengel im Roten Ochsen hinunter, der uns als Schweizer sehr freundlich empfieng & von wo ich die Karte an Euch & Hausens schrieb. Spengel ist der Bier – Wein – & sonstige Vater aller Schweizerstudenten in H. Da findet man die Photographien & Namen ganzer Schaaren [sic]] von Bekannten & Verwandten. Hans Siegrist, Hans Haller, Ernst Haller, Dr. Horlacher etc. etc. sind da vertreten. Wir besahen auch noch die Universität, deren Senatzimmer beim Jubilaeum von 1886 durch die Schweizer ausgestattet wurde. Es ist fidel, auf dem Tisch der badischen Universität das Schweizer- & alle Kantonswappen zu finden. Am fidelsten aber sind die Karzer, die als Sehenswürdigkeit gezeigt werden. Alle Wände dicht angefüllt mit Zeichnungen, Zirkeln etc & die Türen von oben bis unten tapeziert mit Photographien. Alles in allem hat mir H. so gefallen, dass ich am liebsten dort sitzen geblieben wäre.
Um 5h waren wir bereits in Frankfurt, suchten uns zuerst ein Hotel, & durchbummelten, als wir uns im Neustädter Hof einlogiert hatten, ziellos die Stadt. Dann lenkten wir die Schritte gegen den Palmengarten, um dort den Abend zu durchzubringen. Unterwegs wollten wir etwas zu Nacht essen, gerieten aber beim zweiten Versuch in eine sog. Dusterpunt, wo wir mit Mühe & Geduld etwas bekommen konnten. Als wir endlich im Palmengarten anlangten, war da geschlossene Gesellschaft & kein Konzert; wir machten Kehrt & landeten schliesslich im Bürgergarten. Am Sonntag Morgen besahen wir uns die Stadt & giengen um 10hins historische Museum, von dem wir aber nur die Sammlung altdeutscher Gemälde betrachten. Es sind da interessante Altarbilder & Proträts [sic]], jedoch nichts, das mir besonderen Eindruck gemacht hätte.
Um 10h befanden wir uns bereits im Städelschen Kunstinstitut, das ohne Zweifel das Schönste an oder in Frankfurt ist. Hier sind wirklich fast nur die bedeutendsten Namen vertreten, von den neuesten zwar ziemlich spärlich, dafür aber die älteren Deutschen wie Schnorr, Richter, wenn man diese zu den ältern rechnen will. Böcklins Villa am Meer hängt hier neben Bildnissen von Bismarck, Moltke, Wilhelm I. Diese 3 wurden fleissig betrachtet, an Böcklin ging man vorüber! Sehr gut gefallen hat mir auch ein Bild von Rethel, Daniel in der Löwengrube, ein Frauenbildnis von Feuerbach, Sängerkrieg auf der Wartburg von Moritz v. Schwind & noch viele andere. Auch Holbein & Dürer sind vertreten. Ferner Rembrandt, Rubens & von Italienern Moretto, Botticelli, Bellini, Perugino, Guido Reni, Correggio. Wunderbar ist die Madonna Correggios. Leider wurde das Museum um 1h geschlossen. Auch hatten die andern genug von der Kunst, während ich noch lange dageblieben wäre. So giengen wir wieder in die Stadt, assen im Krokodil sehr gut, sehr reichlich & billig & fuhren dann zum Zoologischen Garten. Da Münch & ich uns dafür nicht besonders interessierten, ersparten wir uns das Eintrittsgeld & warteten beim Schützenbrunnen auf die beiden andern. Darauf fuhren wir zum Palmengarten & diesmal war das Glück uns günstig. Es war Nachmittagsconzert, schönes Wetter & die ganze Haute volée von Frankfurt da versammelt. Der Garten ist schön, besonders das Palmenhaus, ein naturgetreuer Palmenwald, der den Besucher mit einem Schlag in ferne märchenhafte Tropenländer versetzt. Nur waren die Frankfurter Jüdinnen, die darin herumspazierten, nicht ganz die richtige Staffage; einige „negerliche Even“ hätten besser hinein gepasst. Wir sassen & spazierten nun den ganzen Abend unrasiert & ungeschlacht, einer sogar im Jägerhemd unter der feinen Frankfurterwelt, betrachteten & liessen uns betrachten. – Frankfurt sieht nicht viel grossstädtischer aus als Zürich; doch sind viel mehr Strassen da, die diesen Charakter tragen: Auch ist der Verkehr einwenig grösser.
Gestern Montag um 840 verliessen wir Frankfurt & waren hier um 11h. Diese Woche wird noch nicht gelesen, sodass wir nun Zeit haben, uns die Gegend & die Gelegenheiten anzusehen. Die Lage ist wirklich sehr hübsch; nur schade, dass die Lahn nicht grösser ist. Sie ist so ungefähr was die Suhr bei Aarau, vielleicht ganz wenig grösser.
Nun wird auch Camille verreist sein & wenn Erwin auch noch fort ist, seid Ihr wieder allein. – Ich bin nun froh, hier meine Bude zu haben; das Reisen ist zwar schön, aber man sollte mehr Zeit & Geld dazu haben. Von hier habe ich noch nichts zu erzählen; im nächsten Brief dann wohl eher.
Herzlich grüsst Euch
Euer Sohn Paul.